Philosophie im Mittelalter

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Ein besonderes Merkzeichen der mittelalterlichen Philosophie ist ihre vielfach bis zur Abhängigkeit sich steigernde enge Beziehung zu Theologie und die Art, wie sie das Verhältnis von Glauben und Wissen fasste.

Aus dem Ursprunge der mittelalterlichen Philosophie erklärt es sich, dass sie in engem Zusammenhange mit der Theologie sich entwickelte. Als in der harten Not der Völkerwanderung die antiken Rhetorenschulen untergingen – philosophische Lehrer gab es schon längst nicht mehr – da war keine andere Macht vorhanden, die durch ihre geistigen Interessen und durch die Festigkeit ihrer Organisation für die Pflege der Wissenschaften eine Heimstätte hätte offenhalten können, als die Kirche. Ihre große Kulturtat war es, die germanisch-romanischen Völker wie zu christlicher Sitte so zu höherer Geistesbildung zu erziehen. So sind auf lange Zeit hinaus Geistliche die Träger der intellektuellen Bildung gewesen. Selbst Ärzte und Juristen sind, wenigstens in der älteren Zeit, meistens Kleriker. Darum trägt die höhere wissenschaftliche Bildung auf lange Zeit ein vorwiegend geistliches Gepräge und ist in ihrer Ausgestaltung durch den Gesichtspunkt des Klerikers bestimmt. Es fehlt auf wissenschaftlichem Gebiete das Interesse für eine allgemeine weltliche Kultur. Ja in manchen rein asketisch gerichteten Kreisen kostet es ein hartes Ringen, neben den theologischen Studien auch dem profanen Wissen, neben den Kirchenvätern auch den heidnischen Schriftstellern den Platz zu sichern, den doch Augustin und Hieronymus in oft angeführten Stellen der antiken Wissenschaft und Kunst gewahrt wissen wollten.

Dieser spezifisch geistliche Charakter der mittelalterlichen, insbesondere der frühmittelalterlichen Wissenschaft macht sich vor allem auf philosophischem Gebiete geltend. Eine gesonderte Philosophie gibt es anfangs nur in dem engen Rahmen des Triviums. In diesem aber hatte die antike Überlieferung nicht den sachlichen philosophischen Problemen, sondern nur den formalen Fragen der Dialektik ein bescheidenes Unterkommen geschaffen. Im Übrigen trat das erwachende philosophische Denken zunächst in den Versuchen, theologische Aufgaben zu bewältigen, ans Licht: Versuche, die durch den vorwiegend intellektualistischen Charakter der herrschenden Religionsströmung naturgemäß hervorgerufen werden mussten. So führt der philosophische Trieb zur spekulativen Begründung der Glaubenslehren, die nicht nur als ein positiv Gegebenes hingenommen, sondern auch in ihrem inneren Zusammenhange und in ihrer Vernunftgemäßheit begriffen werden sollen. Der Glaube soll in einem Wissen sich vollenden. Anselms „Credo, ut intellegam” – er hat es seinerseits Augustin entnommen – hat jenen Bestrebungen die Formel gegeben. Sie will nicht, wie eine missverständliche Auffassung sie oft gedeutet hat, die Natur des Wissens als solchen bestimmen und Methode und Umfang der Philosophie überhaupt angeben, sondern will dem Theologen ein über das bloße Positive hinausgehendes spekulatives Ziel setzen.

Durch diese Versuche einer Rationalisierung der Dogmen wurde nun freilich nicht selten der herkömmliche Sinn der theologischen Sätze verschoben. Bei Anselm selbst zwar, trotzdem er fast alle Glaubenssätze, auch die kirchlichen Lehren von der göttlichen Dreieinigkeit und der Erlösung, zu Postulaten der Vernunft macht – die freilich hier das „Wie” nicht durchdringen könne -, tritt ein solcher Konflikt mit dem theologischen Glaubensbewusstsein der Kirche seiner Zeit nicht zutage; wohl aber war dies schon bei Eriugena, dem kühnen spekulativen Kopfe des 9. Jahrhunderts, bei Berengar von Tours sowie später im 12. Jahrhundert bei Abälard. dem Begründer der scholastischen Methode, der Fall. Anhänger der alten theologischen Lehrweise erhoben sich daher stets von neuem gegen die allmählich sich durchsetzende Neuerung. Sie wollten die Anschauung streng durchführen, der Gregor d. Gr. den Ausdruck gab, dass ein Glaube kein Verdienst habe, dem menschliche Vernunftgründe als Stütze dienten.

Diese Opposition der traditionellen Theologie gegen die Dialektik ist freilich nicht zu ihrem Ziele gekommen. Auch die entwickelte Scholastik des 13. Jahrhunderts ist durch die weitgehende Rationalisierung des kirchlichen Dogmas charakterisiert, und wenn wir die philosophischen Anschauungen dieser Periode ermitteln wollen, so müssen wir sie zu einem großen Teile theologischen Schriften entnehmen. Gleichwohl ist der asketisch-religiöse Gegensatz gegen eine allzu weitgehende Versenkung in die weltliche Wissenschaft in religiösen Kreisen nicht verstummt. Es fehlt auch später nicht an Warnungen, und mehrfach wird betont, dass theologische Fragen rein theologisch, nicht philosophisch zu behandeln seien. Aber ‘seitdem Thomas von Aquino in überlegener Weise das Recht auch der weltlichen Wissenschaft und die Notwendigkeit der Philosophie auch für den Theologen dargetan und in vorbildlicher Weise Philosophie und Theologie miteinander verbunden hatte, ist die herrschende mittelalterliche Einstellung doch nicht mehr zu jener
asketisch-religiösen antidialektischen Opposition zurückgekehrt. Auch der Satz von der doppelten Wahrheit, der in der Annahme gipfelt, dass etwas, wahr sein könne in der Philosophie, falsch in der Theologie, und umgekehrt, ist stets dem heftigsten Widerstande begegnet. Die psychologische Beschaffenheit des mittelalterlichen Geistes war viel zu einheitlich, um ihm allgemein und dauernd zuzustimmen. Versammlungen der Pariser Magister verwerten ihn, Albertus Magnus, Thomas von Aquino und viele andere finden, dass er den Widerspruch in den Urquell der Wahrheit, Gott selbst, hineintrage. Dem im Glauben stehenden und von seiner Wahrheit erfüllten Denker ist es a priori gewiss, dass das in den Glaubensquellen fortlebende Wort der göttlichen Offenbarung einerseits, die Stimme Gottes in Natur und Vernunft anderseits sich nicht widersprechen können und dass jeder Widerspruch darum nur ein scheinbarer sein könne, durch Missverständnisse entweder des Theologen oder des Philosophen herbeigeführt.

Durch diese Einheit von Wissen und Glauben, durch die Verbindung von Theologie und Philosophie erhält nun auch die mittelalterliche Weltanschauung ihr charakteristisches Gepräge; denn die Weise des Denkens bestimmt zugleich die Grundzüge seines Inhaltes.

Nirgendwo sind Theologie und Philosophie im mittelalterlichen Geiste so unlösbar miteinander verbunden wie da, wo man die Werte des Lebens und seiner individuellen und sozialen Gestaltungen festzusetzen sucht. Das religiöse Interesse im Allgemeinen gibt hier der Weltanschauscheinen, so ist eine gesonderte Betrachtung des irdischen Lebens in seiner immanenten Entwicklung und nach seinen immanenten Werten dem mittelalterlichen Denken ursprünglich fremd. Das Diesseits wird von Haus aus unter den transzendenten Gesichtspunkt gestellt. Dieser transzendente Gesichtspunkt aber für die Wertung alles rein Menschlichen weist, wenigstens von Haus aus, nicht zwei Stufen auf, die der natürlichen Theologie und die der positiven Religion, sondern die Offenbarungstheologie selbst nimmt die philosophische Spekulation in sich auf und umfasst in ein e r Schau Natürliches und Übernatürliches. Darum gibt es im Mittelalter — von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch kaum eine philosophische Ethik als selbständiges System wie bei Aristoteles und in der Stoa.

Die theologische Betrachtungsweise der Scholastik hat ihre Eigenart darin, dass sie intellektualistisch orientiert ist. Sie geht – natürlich im Großen und Ganzen genommen – nicht aus, wie die Mystik, von einer Versenkung in das religiöse Erlebnis der Gottesgemeinschaft, auch nicht, wie etwa der spätere Pietismus, von einer Zergliederung des Sündenbewusstseins und des daraus entspringenden Heilsverlangens der Menschenseele, sondern sie stellt in den Vordergrund die Dogmen von Gott, dem Schöpfer, dem Erlöser, dem Vollender. Diese nicht psychologische, sondern dogmatische Art der scholastischen Theologie bestimmt nun auch die besondere Weise, in der man die Spekulation über Sinn und Ziel des Lebens ausgestaltete. Den Ausgangspunkt bilden nicht psychologische Analysen, sondern metaphysisch-dogmatische Sätze von Gott und des Menschen Verhältnis zu ihm. Demgemäß erscheint das Sittengesetz, soweit es ein natürliches ist, als Ausfluss des ewigen Gesetzes im Geiste Gottes, und die Ethik hat feststehende, objektiv gültige Regeln aufzusuchen, denen natürlich nicht nur die äußere Handlung angepasst werden soll, sondern die auch in die innere Gesinnung aufzunehmen sind. Die Auffassung der ganzen Weltordnung als einer theonomen ist der mittelalterlichen Weltanschauung nicht nur Ergebnis, sondern ursprüngliche Voraussetzung.

Innerhalb dieses Rahmens gibt es freilich der Schattierungen gar viele. Eine überwiegend asketische Richtung steigert die Betonung des Jenseitszweckes in dem Maße, dass alles irdische nur als Hemmung empfunden wird. Nicht allein das Haften am irdischen, sondern auch die theoretische Beschäftigung mit ihm erscheint schon als Unvollkommenheit und weltliche Gesinnung. – Dieser rein religiösen Stimmung gegenüber, die an Augustins „Gottesstaat“ sich orientiert, der Natur ins Reich der Gnade reichte und doch in der Abstufung der Werte auch dem Niederen seine relative Bedeutung nicht nur ließ, sondern sie noch bekräftigte. Jetzt konnte man das Natürlich-Sittliche an der vernünftigen Natur des Menschen messen und als deren Entfaltung betrachten; denn diese vernünftige Natur, die menschliche Persönlichkeit, wird jetzt im Unterschiede von der unvernünftigen Natur als ein wenigstens relativer Selbstzweck gewertet. Nun konnte man im Staate die Vollendung der natürlichen Anlage des Menschen als eines Gemeinschaftswesens sehen. Bezeichnend ist es, wie Thomas von Aquino jetzt den Theologen und den Philosophen gegenüberstellt. Es ist der Theologe, der in der Sünde die Beleidigung Gottes ins Auge fasst; der Philosoph dagegen leitet ihre Verwerflichkeit aus dem Widerspruch ab, in dem sie zur Vernunft steht. So wird, an sich betrachtet, in der entwickelten Scholastik die theologische und die philosophische Betrachtungsweise unterschieden. Aber darum bildet selbst die entwickelte Scholastik nicht auch eine rein philosophische Weltanschauung aus. Wo es sich um die Deutung des Lebens und seiner Aufgaben handelt, da beschränkt die Philosophie sich auf die untergeordnete Sphäre, ist hier gewissermaßen der Theologie als Dienerin untergeben. Erst die Theologie unternimmt es, das Rätsel nach dem Sinn und der wahren Bestimmung des Lebens zu lösen, und nur in der Unterordnung unter das Transzendente im Sinne der Offenbarungsreligion gewinnt das Diesseitige Wert und Stellung. Auch dem spekulativen Weltbegreifen der Scholastik ist durch das Hervorwachsen des philosophischen Interesses aus der Forschung des Theologen die bleibende Form mitgegeben. Die Triebkraft nämlich, die überall dem philosophischen Denken des Mittelalters die charakteristische Richtung gibt und damit bestimmt, was vom Strome lebendiger Gedankenentwicklung innerlich ergriffen werden kann, was nur mitgeführt wird oder ganz beiseite bleibt, diese herrschende Triebkraft im

mittelalterlichen Geiste ist der Sinn für die dem scholastischen Theologen im Blute liegende Metaphysik. Das mittelalterliche Weltbegreifen ist metaphysisch. Gott als letzte Ursache und als letztes Ziel der Dinge: das ist das gemeinschaftliche Problem der Theologen und der Philosophen.

Unter den Gegenständen der mittelalterlichen Philosophie, die wie auch ihre Behandlungsart durch den metaphysischen Charakter des Denkens bestimmt werden, nimmt daher den Ehrenplatz die Metaphysik selbst ein. Sie erscheint als die Königin der natürlichen Wissenschaften. Noch erstrahlt ihre Krone, von der Kant meint, dass sie inzwischen zur Dornenkrone geworden sei, in hellstem Glanze. Erblickte doch auch Aristoteles, der philosophische Lehrer der Hochscholastik, obwohl weit mehr empirisch gerichtet als Plato, in der Metaphysik die Grundwissenschaft für alles Erkennen und die eigentliche Aufgabe des Philosophen. Schon in der werdenden Scholastik, die eine besondere Philosophie fast nur als Logik oder Dialektik kennt, tritt innerhalb dieser als Hauptproblem die Frage nach der Natur der Allgemeinbegriffe auf, die im Streit des Nominalismus und Realismus eine zugleich auch metaphysische Wendung nimmt. In der Hochscholastik aber. ist diese Metaphysik sowohl als gesonderte philosophische Disziplin – die mit Vorliebe an die Erläuterung der aristotelischen „Metaphysik“ angelehnt wird – wie im Zusammenhange theologischer Spekulation zu Systemen von ebenso gewaltiger Größe wie von fein durchgeführter Gliederung entwickelt, gleich den gotischen Domen, in denen die damalige Zeit ihre künstlerische Gestaltungskraft zum Ausdruck brachte.

Viele der damals aufgestellten metaphysischen Probleme, Begriffe und Unterscheidungen haben ihre unverwüstliche Lebenskraft auch dadurch bewiesen, dass sie, sei es in der ursprünglichen oder in umgestalteter Form und in neuen Zusammenhängen, auch in der neueren Philosophie immer wieder durchbrechen.

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