Brotseuche

Cinque Terre Forest
Lexikon des Mittealters Leben im Schatten der Zinnen: Burgen des Mittelalters und ihr Alltag
Erkunde das Mittelalter: Über 3.979 Seiten und mehr als 6.400 Einträge bieten dir einen tiefen Einblick in diese Ära. Vom Ablass bis zur Zunftordnung - dieses eBook ist dein Guide durch die Geschichte, Gesellschaft und Kultur Europas von 500 bis 1500 n. Chr. Entdecke in „Leben im Schatten der Zinnen“ auf 122 Seiten die mittelalterliche Burgenwelt: Architektur, Alltag und ihre Rolle im Mittelalter kompakt erklärt.

Brotseuche (auch St. Antonius-Feuer [sant Antonjen viur; der Eremit Antonius galt als Helfer bei Hautleiden], ignis martialis [der als Helfer angerufene hl. Quirinus war namensgleich mit dem als Kriegsgott mit Mars in eins gesetzten altröm. Gott der Gemeinde auf dem Quirinal], daz wilde viur, ignis sacer, ignis infernalis, ardentes igne malo, Kribbelkrankheit, Krampfsucht; wiss. Ergotismus, nach den verursachenden Alkaloiden, den Ergotoxinen). Die epidemisch auftretende Krankheit – erstmals erwähnt 856 im Rheingebiet – wurde hervorgerufen durch Produkte aus Roggenmehl, das mit dem schwarzen “Mutterkorn” (Secale cornutum) verunreinigt war, welches sich bei Mehltaubefall der Roggenkörner bildet. Vor allem im 10./11. Jh., aber auch in den Jhh. davor und danach, traten – zusammen mit Hungersnöten – immer wieder Krankheitsausbrüche auf. Der Zusammenhang ergab sich daraus, dass nasskalte Witterung einerseits den Ernteertrag minderte und Hungersnöte auslöste, andererseits das Wachstum des Mutterkorns begünstigte. Zudem war der Gehalt an giftigen Alkaloiden zur Zeit der Getreidereife am größten, um danach wieder abzufallen, und in Hungerszeiten wurde das Korn verarbeitet, kaum dass es geerntet war. Da das Brot der Reichen (“Herrenbrot”) aus Weizen bestand, befiel die Krankheit nur minderbemittelte Leute und Bauern, die sich mit dunklen Brotsorten, zumeist mit Roggenbrot zufrieden geben mussten.

Das “Mutterkorn” ist die Dauerform eines Pilzes (Claviceps purpurea) und enthält Alkaloide (Ergocornin, Ergotamin u.a.), welche die Vergiftung (Ergotismus gangraenosus) hervorrufen. Dabei handelt es sich um chronische Durchblutungsstörungen durch Vasospasmus, in deren Verlauf es zu Blasen- und Gangränbildung kommt, wobei ganze Glieder, vornehmlich Hände und Füße, “unter unerträglicher Kreuzesqual” (“cum intolerabili cruciatu”) schwarz werden und abfallen. Ein Chronist schrieb 1089: “Viele verfaulten zu Fetzen, wie von einem heiligen Feuer verzehrt, das ihnen die Eingeweide auffraß; ihre Glieder, nach und nach zernagt, wurden schwarz wie Kohle. Sie starben schnell unter grauenvollen Qualen, oder sie setzten ohne Hände und Füße ein noch schrecklicheres Leben fort.” Das entsetzliche Schmerzgebrüll (“horrendissimus ululatus”) der Kranken war weithin zu vernehmen, ein unbeschreiblicher Gestank verpestete die Umgebung.

Mancherorts trat die Krankheit infolge andersartiger Alkaloidproduktion der Claviceps purpurea als Krampfform (E. spasmodicus) auf, welche Dauerkontrakturen der Beugemuskulatur oder konvulsive, epilepsieähnliche Krämpfe (E. convulsivus), auch Ohnmachten zeitigte und zu Psychosen bis hin zum Irrsinn führen konnte.

Behandlungsversuche wurden u.a. mit Bleiweiß, Steinstaub, Pech oder Wagenschmiere unternommen. Daneben suchte man Heil in der Anrufung von Schutzheiligen, besonders von St. Antonius und St. Quirinus. Das von Mönchen verteilte helle “St. Antoniusbrot”, von dem Heilwirkung berichtet wird, war wahrscheinlich ein Gebäck aus giftfreiem Getreide (Weizen) oder einer Mischung aus Roggen und Weizen (Mengkorn), das bei frühen Krankheitsstadien – durch Aussetzung der Giftwirkung – Heilung bringen konnte (s. Antoniter).

Die Krankheit grassierte besonders unter Armen, Kindern und Kranken, war meist auf bestimmte Regionen begrenzt, in denen witterungsbedingter Getreidemangel aufgetreten war – waren doch Witterungsverhältnisse, die den Ernteertrag minderten, dem Wachstum der Mutterkornpilze förderlich. – Es wird vermutet, dass die spastische Form durch Vitaminmangel mitverschuldet war.

Die ärztliche Kunst war vor allem gegen die Symptome gerichtet. Der arab. Alchimist Djabir ibn Hajjan (Geber, 8. Jh.) schreibt zu Mutterkorn: “Dieses Gift ist … stark heiß. Die Ärzte wählen bei seiner Behandlung äußerste Abkühlung, nämlich Umschläge von kalten Arzneien wie Sandelholz, Opium, Kampfer und Endivienwasser.” Ferner läßt er befallene Körperteile mit Schnee einreiben und rät zur Einnahme von Gerstenbrei mit Schnee.

Auch der gelehrte Mönch Odo Magdunensis empfiehlt in seinem Heilkräuterbuch Macer Floridus (12. Jh.) die Anwendung kühlender und trocknender Pflanzen. So den Saft von Breitwegerich (plantago maior) zur Schmerzlinderung, und zur Heilung von Hautgeschwüren eine Salbe aus Rautensaft, Bleiweiß, Rosenöl und Essig, einen Breianstrich aus gestamftem Nachtschatten und Mehl, einen Umschlag mit gestampftem Schierling sowie ein Pflaster mit gestampftem Sauerampfer. “Verquickst du abgekochte Malvenblätter mit Olivenöl, kannst du mit diesem Pflaster das heilige Feuer löschen.”

Dass von Mutterkorn befallenes Getreide, dessen Schädigung ja mit bloßem Auge zu erkennen ist, überhaupt verarbeitet wurde, lag an dem mangelnden Hygienebewusstsein der Zeit und besonders an dem häufigen Mangel an Brotgetreide. (Ein Arzt aus Antwerpen hat 1630 den Zusammenhang zwischen Mutterkorn im Brotgetreide und der brandigen Form der Brotseuche entdeckt. Trotzdem ist die Krankheit noch nach Missernten späterer Jahre – so z.B. 1770 in Deutschland – seuchenartig aufgetreten.)

(s. Drogen)

Bestseller Nr. 1
Bestseller Nr. 2
Bestseller Nr. 3
Adel bis Zunft, Ein Lexikon des Mittelalters
Adel bis Zunft, Ein Lexikon des Mittelalters
Volkert, Wilhelm (Autor)
4,35 EUR
Bestseller Nr. 5
Nach oben scrollen