Selbstmord

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Selbstmord (mhd. selp-entlibunge = Selbstentleibung; neulat. suicidium = Selbsttötung, lat. mors voluntaria = Freitod). Sokrates und Platon lehnten die Selbsttötung als unzulässiges Ausscheiden aus dem göttlich bestimmten Schicksal ab. Epikureer und Stoiker anerkannten den Freitod als letzte Möglichkeit menschlicher Selbstverwirklichung. Die röm. Philiosphie und das röm. Recht unterschieden zwischen “unschuldigen” und unentschuldbaren Selbstmorden. Zu ersteren führten Gründe wie Lebensüberdruss, unheilbare Krankheit oder – im Falle von Zivilpersonen – philosophische Überzeugung. Unentschuldbar und mit Strafe (Einziehung der Besitztümer) belegt waren Selbstmorde von Soldaten und von Leuten, die unter gerichtlicher Anklage standen.

In der Bibel ist Selbsttötung nirgends ausdrücklich als sündhaft beurteilt. Nachdem die alte Kirche, deren Verständnis zufolge Jesus den Tod aus freiem Willen angenommen hat, durch ihren Märtyrerkult zum Selbstmord geradezu angestiftet hatte, begann mit Augustinus die Kriminalisierung der Selbsttötung als einer “abscheulichen und verdammenswerten Schlechtigkeit”, durch die Gottes Gebot “Du sollst nicht töten” böswillig verletzt würde. Von Konzil zu Konzil wurde das kanonische Recht – und mit ihm das weltl. Recht – gegenüber der Selbsttötung repressiver. 533 beschloss das Konzil von Orleans, jedem das kirchl. Begräbnis zu verweigern, der sich im Anklagezustand tötete. Diese Strafe wurde 562 in Braga auf alle Selbstmörder ausgedehnt. Das Konzil von Toledo (693) endlich verfügte, dass auch versuchter Selbstmord mit Exkommunikation zu bestrafen sei. Die Synode von Nimes (1284) stellt fest, dass selbst geistesgestörte Selbstmörder nicht in geweihter Erde bestattet werden dürften. Zur Begründung bei alledem bediente man sich der Geschichte von Judas Ischariot, des geldgierigen Gottesverräters, der sich seiner Verantwortung feige durch Selbstmord entzog. Als maßgeblich ist der Umstand anzunehmen, dass es die Kirche als Schmälerung ihrer richterlichen Funktion ansah, wenn einer sich “des Lebens entäußerte”. Ein Schlüsselbegriff für die Diffamierung der Selbsttötung war “desperatio”, das vom Satan geschürte Laster der “Verzweiflung”, des unüberwindbaren Zweifels an der göttlichen Barmherzigkeit.

Nach weltl. Recht wurden die Besitztümer des Delinquenten zugunsten des Gerichtsherren eingezogen, die sterbliche Hülle des Sünders wurde erst nach verschiedenen infamierenden Inszenierungen “gerichtet”, danach verbrannt, ins Wasser geworfen oder in ungeweihter Erde verscharrt (s. Eselsbegräbnis). Der Grund für die Konfiskation lag im Röm. Recht: Danach war das Vermögen eines zum Tode Verurteilten dem Fiskus verfallen; wer dem Todesurteil durch Selbstmord zuvorkam, konnte die Konfiskation dadurch nicht abwenden. Im Mittelalter wurde diese Rechtspraxis dahingehend fehlgedeutet, dass Konfiskation als Strafe auf Selbstmord stünde. Diese Auffassung setzte sich gegen die des Sachsenspiegels durch, den Nachlass den Erben zu belassen. Von der Konfiskation ausgenommen war das Erbgut im Falle einer seelischen Erkrankung des Selbstmörders; in diesem Fall unterblieben auch Exkommunizierung und schimpfliches Begräbnis.

Im mittelalterliche Volksglauben bestand die Befürchtung, dass Selbstmörder zu bösartigen Wiedergängern würden, sofern man nicht besondere Vorsichtsmaßnahmen träfe. So durfte der Tote nicht über die Schwelle des Hauses nach draußen gebracht werden, sondern musste durch eine eigens unter ihr gegrabene Grube oder durch ein Loch in der Hauswand nach draußen gezogen werden. Der Leichnam musste mit dem Gesicht nach unten in die Grube gelegt und mit Dornengestrüpp bedeckt werden, um ihm die Wiederkehr zu erschweren. Gegen das Umgehen des Selbstmörders als Untoter war auch die Pfählung seiner Leiche im Grabe gerichtet. Das Tatwerkzeug (Strick und Balken, Dolch) musste vernichtet werden, ebenso die Totenbahre. Mittelalterlichem Aberglauben nach hatte ein Selbstmord unweigerlich Sturm, Hagelschlag oder Dürre für das Umland des Tatorts im Gefolge.

Abweichend von der negativen Bewertung des Suizids wurden solche Christen als heldenhafte Märtyrer verehrt, die den Tod als “Blutzeugen” nicht nur auf sich genommen, sondern geradezu herausgefordert hatten.

In selbstmörderischer Absicht haben auch manche Katharer die endura, den Freitod durch absolute Nahrungsverweigerung, auf sich genommen, um irdischen Verführungen oder grausamer Verfolgung durch die Ketzerjäger der Röm. Kirche zu entgehen.

Nicht vergessen sei auch die kollektive Selbsttötung vieler Judengemeinschaften, wodurch sich diese den Scheußlichkeiten der durch Kreuzzüge, Seuchen oder böswillige Verleumdung verursachten Pogrome entzogen.

Die häufigsten Arten der Selbsttötung im MA, waren Ertrinken, Erhängen, Vergiften und Verbluten (z.B. durch Eröffnung eines Blutgefäßes, z.B. der Arteria brachialis in der Ellenbogenbeuge).

Ein Selbstmörderstrick galt – gleich dem Galgenstrick – als Heil- und Schutzmittel. Das Haus, in dem ein Splitter von dem Baum aufbewahrt wurde, der einem als Galgen gedient hatte, war gegen alle Gewitter gefeit; seine Einwohner waren sicher vor Krankheiten und Dieben.

(s. Gifte, Henken, Zweifel)

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