Lexikon des Mittealters | Zwischen Zinnen und Alltag - Das Leben auf mittelalterlichen Burgen |
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Ein bedeutsames Ereignis für das Ostslawentums war die Vereinigung der Fürstentümer Kiew und Nowgorod. Die Überlieferung schreibt diese Vereinigung dem Fürsten Oleg zu. Nun befand sich der ganze „Weg von den Warägern zu den Griechen“ unter der Herrschaft eines einzigen Fürsten, dessen Hauptstadt Kiew wurde. Im Jahre 911 führte Oleg einen erfolgreichen Feldzug gegen Konstantinopel. Die Byzantiner wurden ihm tributpflichtig. Es wurde ein Handelsvertrag mit Byzanz abgeschlossen, nach dem die russischen Kaufleute von Handelszöllen befreit wurden und viele andere Vorteile erhielten.
Weniger erfolgreich waren die Feldzüge Igors, des Nachfolgers von Oleg. Er musste einen Handelsvertrag unter ungünstigen Bedingungen abschließen. Die russischen Kaufleute mussten wieder Handelszölle zahlen, und Igor musste versprechen, das Gebiet von Byzanz nicht zu überfallen, sondern vor Feinden zu schützen. Diese Verträge Olegs und Igors sind in griechischer und russischer Sprache verfasst; das beweist, dass die Russen schon damals ein Schrifttum hatten.
Am mächtigsten wurde der Kiewer Staat unter den Fürsten Swjatoslaw, Wladimir und Jaroslaw. Unter ihrer Regierung bildete sich ein großer Kiewer Staat, der in seiner Ausdehnung, mit seinem Reichtum und seiner Macht das Reich Karls des Großen übertraf. Marx nennt den russischen Staat dieser Zeit „das Reich der Ruriks“ (so hieß die Dynastie der Kiewer Fürsten nach ihrem sagenhaften Begründer Rurik).
Im 10. und 11. Jahrhundert bildete sich in der Rus eine Feudalordnung heraus. Ursprünglich bestand die Hauptmasse der Bevölkerung aus freien Bauern, den „Smerden“, die in Gemeinden lebten. Später wurden die Smerden allmählich von den Adligen, den Fürsten und Bojaren, unterworfen und zu Hörigen gemacht. Die unfreien Menschen, deren Lage der Sklaverei nahe kam, wurden „Cholopen“ genannte. Die Fürsten und Bojaren besaßen große Wirtschaften, ähnlich wie die westeuropäischen Feudalherren. Das Herrenland in diesen Wirtschaften wurde von unfreien Bauern im Frondienst bearbeitet.
Die russischen Fürsten hatten, ebenso wie die westlichen Feudalherren, auch eigene Kriegsgefolge und teilten mit den kleineren Grundherren ihre Besitzungen. Dem Kiewer Staat drohte der gleiche Zerfall wie dem Reich Karl des Großen. Dieser Zerfall trat dann nach dem Tode Jaroslaws ein. Eine Anzahl von Fürstentümern bildete sich, ähnlich wie in Westeuropa. Der Kiewer Großfürst hatte keine Macht mehr über die Fürstentümer. So begann auch in der Rus wie in dem übrigen Europa eine lange Periode der feudalen Zersplitterung.
Das russische Land war in seiner Wirtschaft, in seiner Staatsordnung und seiner Kultur ständig von Feinden bedroht. Dazu gehörten besonders die halbwilden Nomadenstämme, die in unzähligen Horden die sudrussischen Steppen durchzogen. Die Petschenegen verwüsteten das russische Land, trieben Gefangenen fort, störten die Handelsbeziehungen zu Byzanz und überfielen die russischen Kaufleute an den Stromschnellen des Dnepr. Die Petschenegen wurden von den Polowzen abgelöst, die ihre Überfälle besonders zu der Zeit verstärkten, als die Einheit des Kiewer Staates zu Enden ging und die Rus sich in feudale Herrschaftsgebiete auflöste, die in ständiger Feindschaft miteinander lebten. Der letzte der Großfürsten, dem es gelang, die russischen Feudalherren noch einmal zu vereinigen, war Wladimir Monomach (1113 – 1125). Seine Mutter war einen byzantinische Kaisertochter. Er selbst war aber mit einer Tochter des englischen Königs verheiratet. Wladimir Monomach war einer der gebildeten Männer seiner Zeit. ER verfasste die berühmte „Belehrung“, in der er zum Nutzen seiner Söhne sein Leben erzählt. Ihm gelang es, die russischen Fürsten zu einem erfolgreichen Kampf gegen die Polowzen zu vereinigen.
Nach seinem Tod begannen die Streitigkeiten unter den Fürsten von neuen, und die Überfälle der Polowzen häuften sich, Im ununterbrochenen Kampf gegen sie erschöpfte das russische Volk seine Kräfte. Die Polowzen zerstörten die Handelswege und unterbanden die kulturellen Beziehungen mit dem Orient, mit Byzanz und den Donauländern. Das Kiewer Reich verlor seine frühere Bedeutung. Die südrussischen Bauern hatten keine Gewissheit, ob es ihnen gelingen würde, ihre Ernte einzubringen, ob sie nicht von den Polowzen erschlagen, ihre Häuser zerstört und ihre Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt werden würden.
Aber ungeachtet der staatlichen Zersplitterung und aller Not infolge des ständigen Kampfes mit der Steppe verlor das russische Volk niemals das Bewusstsein der Einheit aller russischen Länder, verschwand niemals die Erinnerung an die frühere Größe des Kiewer Staates; es erhielt sich der feste Glaube, dass die Einheit und Größer dereinst erstehen würde.