Aderlass

Cinque Terre Forest
Lexikon des Mittealters Zwischen Zinnen und Alltag - Das Leben auf mittelalterlichen Burgen
Erkunde das Mittelalter: Über 3.979 Seiten und mehr als 6.400 Einträge bieten dir einen tiefen Einblick in diese Ära. Vom Ablass bis zur Zunftordnung - dieses eBook ist dein Guide durch die Geschichte, Gesellschaft und Kultur Europas von 500 bis 1500 n. Chr. Entdecke in „Zwischen Zinnen und Alltag - Das Leben auf mittelalterlichen Burgen“ auf 111 Seiten die mittelalterliche Burgenwelt: Architektur, Alltag und ihre Rolle im Mittelalter kompakt erklärt.

Aderlass (mhd. aderlaz[unge], laze, bluot lazen; lat. venaesectio, sanguinem minuere; grch. phlebotomia). Ein im Mittelalter häufig angewandtes Verfahren zur Prophylaxe und Therapie einer Vielzahl von Leiden sowie zur Diagnose (s. Blutschau). Dabei wurde die über einer Ligatur („laz-binde“) gestaute Vene mit dem „laz-isen“ (auch vliedel, vliedeme, vlieme; v. lat. phlebotamum = Aderlasseisen, Fliete) geöffnet und das Blut in einem Lassbecher aufgefangen. Welche Ader bei welchem Leiden zu „schlagen“ sei, konnte man in Aderlasskalendern nachlesen. (Zitat: „Es ist auch eine Ader auff dem zeigfinger, die Anatomici nennen sie Salvatellam. Dieselbe schlägt man auf der rechten Hand in Verstopfung der Lebern und auf der linken in Verstopfung der Miltz.“) Für den Zeitpunkt und Intensität der Prozedur waren astrologische und jahreszeitliche Aspekte, Verrufenheit oder Eignung bestimmter „Laßtage“ sowie Alter, Geschlecht, Lebensweise des Patienten und das Stadium der Krankheit zu beachten. Auch darüber, nach welchen Kriterien das Blut zu beurteilen war konnte man in Aderlassbüchern nachlesen.

Dem Aderlassen (wie dem Schröpfen) lag die Idee zugrunde, dass mit dem genommenen Blut dem Körper krankmachende Säfte (livores venena; materia peccans) entzogen würden, bzw. dass das richtige Verhältnis der Körpersäfte wiederhergestellt werde. Nach vorherrschender Meinung „reinige und erhelle er Gehirn und Verstand, schärfe die Sinne und Geister, hebe die Verdauung, bringe Schlaf und Stärkung den Gliedern, verscheuche den Verdruss, erhalte und mehre die Kräfte, verbessere Stimme und Hören, löse und besiege die schwersten der Leiden.“ (Zit. bei V. v. Fossel)

Da man das Blutvolumen des menschlichen Körpers überschätzte (Annahmen reichten bis zu 24 Liter), und gemäß der Überzeugung, dass der Blutvorrat sich bald wieder auffülle, kam es bei drastischen Aderlässen zu Ohnmachts- und auch zu Todesfällen. (Bei einer Gesamtblutmenge von 4 bis 5 l enthält der Körper eine zirkulierende Menge von etwa 3,5 l, wovon bis zu 30% ohne bleibenden Schaden entzogen werden können.) Die hl. Hildegard empfiehlt (in „Causae et curae“), bei einem gesunden, kräftigen Menschen einmal vierteljährlich etwa so viel Blut zu entziehen, wie ein durstiger ausgewachsener Mann auf einen Zug Wasser trinken kann [ca. 100 – 200 ml], bei körperlich Schwachen ein- bis zweimal jährlich so viel, wie ein Ei von gewöhnlicher Größe fassen kann [ca. 50 ml]). Hildegard gibt neben vielen Anweisungen zu Aderlass und Schröpfen auch Regeln, wie man sich nach dem Aderlass zu verhalten habe und solche, nach denen die Beschaffenheit des entzogenen Blutes zur Prognostik herangezogen werden konnte („Von der Verschiedenheit des Blutkuchens“).

Kinder unter zwölf Jahren sollten nicht zur Ader gelassen werden, im Notfall sollte man ihnen Blutegel ansetzen. Vom 14. bis zum 50. Lebensjahr durften Männer viermal jährlich, danach einmal pro Jahr und ab dem 80. Jahr garnicht mehr zur Ader gelassen werden. Frauen dagegen, von denen angenommen wurden, dass sie generell ein Übermaß an schädlichen Säften in sich trügen, durften sich diese bis zum 100. Lebensjahr entziehen lassen.

In Klöstern wurde die Kunst des Venenschlagens im Ärztehaus (domus medicorum) ausgeübt, und zwar vom infirmarius, vom 11. Jh. an von einem der Klosterministerialen (minutor, phlebotomator, sanguinator, tonsor), dem nebenbei noch andere Aufgaben oblagen. Manch einer der Brüder ließ sich schon deshalb schröpfen, um danach in den Genuss kräftigenden Aderlassweins und feinen Weißbrots zu kommen. In den Städten wurde das Aderlassen von speziellen „Venenschlagern“ (Phlebotomisten, phlebotomarii), von Badern, Barbieren und Wundärzten geübt.

Das Aderlassblut musste an einem geeigneten „reinen“ Ort oder in fließendes Gewässer entsorgt werden. Blut kranker Personen setzte man gelegentlich einem Hund zum Fraß vor, was die Übertragung der Krankheit auf das Tier bewirken sollte.

Insgesamt wurde mit dem Aderlass schrecklicher Missbrauch betrieben, und die Vorteile standen in keinem Verhältnis zu den angerichteten Schäden.

(s. Ableitung der Körpersäfte; Aderlass beim Tier (s. Tierheilkunde); Aderlassmännchen (Aderlasstraktat); Blutstillung; Säftelehre)

Bestseller Nr. 1
Bestseller Nr. 2
Bestseller Nr. 3
Bestseller Nr. 4
Adel bis Zunft, Ein Lexikon des Mittelalters
Adel bis Zunft, Ein Lexikon des Mittelalters
Volkert, Wilhelm (Autor)
2,13 EUR
Nach oben scrollen