Fälschungen

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Lexikon des Mittealters Leben im Schatten der Zinnen: Burgen des Mittelalters und ihr Alltag
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Fälschungen (mhd. valscherie, velscherie; lat. spurium, zu spurius = Bastard; mlat. falsificatum, crimen falsi). Die Kirche hatte bis zum Spätmittelalter das Schriftmonopol und wusste diesen Vorteil zu nutzen. So waren durch kirchliche Instanzen veranlasste und von Klerikern hergestellte Fälschungen im Mittelalter an der Tagesordnung. Da älteren Beurkundungen höhere Rechtskraft als jüngeren zugesprochen wurde (altes Recht brach junges Recht), betrafen die Fälschungen zumeist ältere Rechtszeugnisse, auch wurden deshalb jüngere Urkunden zurückdatiert. Mit Fug darf angenommen werden, dass im Mittelalter ebenso viele falsche wie echte Urkunden, Konzilsakten, Märtyrerakten, Papsterlasse, Passions- oder Visionsberichte, Heiligenviten, Legenden, Reliquienatteste, Annalen und Chroniken kursierten. Die Fälscherpraxis scheint zwischen dem 8. und dem 13. Jh. kulminiert zu haben. Fälscherwerkstätten wurden gewerbsmäßig und in großem Stil betrieben, so in den Klöstern Corvey, Le Mans, Reichenau und Montecassino.

Es ist darf vorausgesetzt werden, dass der mittelalterliche Wahrheitsbegriff sich vom heutigen nicht unterschieden hat; zumindest von Augustinus als der höchsten theolog. Autorität wurde jede Form der Lüge rigoros abgelehnt (in “De mendacio” und “Contra mendacium”). Innozenz III., auf dessen Befehl die Fälscherwerkstatt am päpstl. Hof (vorübergehend) stillgelegt wurde, stellt bündig fest: “Falsitas sub velamine sanctitatis tolerari non debet”. Indes dürfte dies in praxi die frommen Fälscher wenig abgeschreckt haben – für sie heiligte der Zweck das Mittel: sie fälschten, um der hl. Lehre aufzuhelfen, die Macht der Kirche zu mehren, die Besitz- und Einkommensverhältnisse einer kirchl. Institution zu bessern, oder um ihre Heiligen desto strahlender und ihre Feinde desto verruchter erscheinen zu lassen – letztendlich also in guter Absicht, wenn schon nicht guten Glaubens. Als Musterbeispiele kirchl. Fälschungen seien genannt die “Ravennater-Fälschungen” (1084; Bergbau auf Edelmetalle wurde als “Regalium Sti. Petri” dargestellt), die Konstantinische Schenkung, das Decretum Gratiani, die Pseudoisidorischen Dekretalen, die “Lorcher Fälschungen” (s. Pilgrim), der Brief des Presbyters Johannes und die Gattung der Jenseitsbriefe.

Zur Technik des Siegelmissbrauchs und der Siegelfälschung finden sich aufschlussreiche Einzelheiten in einem Dekretale Papst Innozenz’ III. (de crimine falsi). Darin sind neun Arten der Fälschung päpstlicher Schreiben aufgelistet:

1.) Das Versehen einer gefälschten Urkunde mit einer gefälschten Bulle (ut falsa bulla falsis literis apponatur).

2.) Dass der Faden aus einer echten Bulle ganz herausgezogen wird und diese mit einem anderen eingelassenen Faden in einen falschen Brief eingezogen wird.

3.) Das Versehen eines gefälschten Schreibens mit einer echten Bulle, wobei der Faden unter dem Umbug (plica) des Pergaments durchgeführt wird.

4.) Das Versehen eines gefälschten Schreibens mit einer echten Bulle, wobei der Faden unter dem Blei abgeschnitten und am Falsifikat wieder unter das Blei zurückgeführt wird.

5.) Die Veränderung eines ausgefertigten und mit einer Bulle versehenen Schreibens durch leichte Rasur (… per rasuram tenuem immutatur).

6.) Das Fälschen einer echten und mit einer Bulle versehenen Urkunde durch teilweises Löschen der Schrift, neuem Weißen des betreffenden Pergamentgrundes und Neubeschriftung.

7.) Das Fälschen einer echten und mit einer Bulle versehenen Urkunde durch Löschen des Textes und Überkleben mit einem dünnen, in derselben Aufteilung neu beschrieben Pergament.

8.) Das wissentliche und ungesetzliche Entgegennehmen von päpstl. Schreiben von Anderen als dem Papst selbst oder seinem Bullatoren.

9.) Das Einschmuggeln gefälschter Briefe in das Siegelamt, damit sie zusammen mit anderen mit einer echten Bulle besiegelt werden.

Ebenso wie die Geistlichkeit gingen weltl. Herren und Körperschaften mit der Wahrheit großzügig um, wenn es galt, sich Vorteile zu verschaffen (so sollen etwa 15 % der Urkunden der ersten vier Karolinger und etwa 10 % von denen der ersten sächsischen Könige Falsifikate sein). Bis ins 14. Jh. bediente man sich zur Niederschrift von Urkunden und Gerichtsprotokollen, zur Führung von Rechnungsbüchern und zur Ausfertigung von Briefen und Sendschreiben – und eben auch zur Herstellung von Falsifikaten – fast ausschließlich geistlicher Schreiber. Danach rückten zunehmend Laien in diesen Tätigkeitsbereich. Besonders häufig wurden Urkundenfälschungen veranlasst, um den Beginn einer Ahnenreihe, den Ursprung einer bisher unverbrieften Rechtspraxis oder das Gründungsdatum einer Institution – etwa einer Universität – möglichst weit zurückzuverlegen und dadurch aufzuwerten. Eine erst in der Neuzeit als solche erkannte Fälschung ist der Freiheitsbrief Friedrich Barbarossas für Lübeck (1188), die 1226 Friedrich II. erfolgreich zur Bestätigung vorgelegt wurde. Die Urkunde war samt Siegel gefälscht worden, wozu der Abdruck von einem echten kaiserlichen Siegel nötig war.

Urkundenfälschern drohten schwere Strafen: der Verlust der rechten Hand oder des rechten Daumens, vom 13. Jh. an Scheiterhaufen oder Sieden in Öl. Es dürften davon jedoch nur Kriminelle minderer Stände und schwere Delikte betroffen gewesen sein, insgesamt wurde wegen Urkundenfälschung kaum jemand der Prozess gemacht, eher wehrte man sich gegen Rechtsfälschungen durch Dagegensetzen eigener Fälschungen, fälschte, um die alte Ordnung wieder herzustellen.

Fälschungen traten außer bei Urkunden auch bei Münzen, Maßen und Gewichten auf.

(s.a. Konsumentenschutz, Lehninsche Weissagung {s. Lehnin (Kloster)}, , Münzvergehen, Privilegium maius, Reliquien, Spuriose Schriften)

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