Geisteskrankheiten

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Lexikon des Mittealters Leben im Schatten der Zinnen: Burgen des Mittelalters und ihr Alltag
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Geisteskrankheiten (mhd. wansin, wanwicz, irrekeit, torheit, tolheit, narrheit, bloedekeit, unsin, unsinnecheit; verbunden mit epileptiformen Krämpfen: vallend sucht, getwang, krampf, vreise; lat. dementia, insania, vesania, stultitia, melancholia, melancolica passio). Im Mittelalter galten Geistes-, Gemüts- oder Seelenkranke als von bösen Geistern Besessene. Einige scholastische Ärzte sahen als Ursache – besonders der anfallsweisen, konvulsivischen Formen der Besessenheit – hirnorganische Störungen. Naturkundler deuteten Geisteskrankheit im Sinne der spätantiken Säftelehre. Danach bestimmten vier Säfte durch ihr komplexes wechselseitiges Zusammenspiel das Wesen des Menschen: Blut, Galle, Schleim und Schwarze Galle. (Diese entsprechen den vier Elementen Erde, Luft, Wasser und Feuer.) Störungen des Fließgleichgewichts der Säfte, etwa durch Diätfehler, klimatische Faktoren oder auch sexuelle Unregelmäßigkeiten, wurden als Ursachen von Geisteskrankheiten angesehen. – Constantinus Africanus stellte seelische Störungen nach arab. Vorbild in seinem Traktat “De melancolia” zusammen. Er unterschied zwischen “Hypochondria” (einer psychsomatischen Störung, hervorgerufen durch den Dunst der Schwarzen Galle, der zum Hirn steige, den Verstand verwirre und “das Herz in Furcht versetzt”; daraus resultierten Niedergeschlagenheit, Angst Abmagerung und Potenzstörungen) und “Kephalose” (einer Erkrankung der Hirnsubstanz; Schlaflosigkeit, Kopfschmerz, Appetitlosigkeit, Kontaktscheu und Trugwahrnehmungen bewirkend). Epilepsie wird von Constantinus als eine Unterart der Melancholie angesehen. – Hildegard v. Bingen folgt bei ihrer Beschreibung seelischer Zustände der Humorallehre, den eigentlichen Grund pathologischer Zustände sieht sie in der Erbsündelehre. In der melancolia sieht sie das schlechthinige Symbol des Krankseins und des heilsuchenden Menschen. – Petrus Hispanus (13. Jh.) fasste die Geisteskrankheiten als lokalisierbare Hirnerkrankungen auf und unterschied Formen wie “Hunds-Manie”, “Wolfs-Manie”, “Stupor”. – Der byzantinische Arzt-Philosoph Johannes Actuarius (13. Jh.) verfasste eine Summa der allgemeinen Pathopsychologie und Therapie. Psychische Störungen stellen sich ihm als eine Beunruhigung des Pneumas (Pneuma psychikon) dar, hervorgerufen durch Dünste rauchiger Art, die ihrerseits bei vorliegender Dyskrasie der Säfte entstehen. Vorbeuge und Behandlung bedienen sich zunächst der Mittel der Diätetik; aber auch die Erziehung zur Weisheit wird als Prophylaktikum angesehen.

Heilung suchte man zunächst in kirchlichen Mitteln (Gebeten, Wallfahrten, Dämonenaustreibung), sodann in Maßnahmen der Diätetik (darunter Bäder, warme Angüsse an den Extremitäten, Salbungen, Bewegungssport, Musik), der Lithotherapie (s. Edelsteine, magische Wirksamkeit der), der farblichen Beeinflussung, aber auch in mäßigem Wein- und Sexualgenuss. Daneben wucherte eine Vielzahl abstruser Therapeutika wie diverse Laxantien, Nieswurz oder als Anguss applizierte Frauenmilch. Behandlungsformen bestanden häufig in Aderlass, Räucherungen oder seltener in einer Schädeltrepanation. Als ultima ratio blieb das Brennen beiderseits des Genicks bis auf den Schädelknochen (“curia curiatis in frenesi”), ein heroischer Eingriff von eher zweifelhaftem Wert (Schocktherapie).

Geisteskranke durften sich frei bewegen, mussten sich jedoch durch besondere Tracht (Narrenkittel mit Narrenkappe und Glöckchen) kenntlich machen. Nur in äußersten Fällen wurden sie mit dem “Narrenseil” gefesselt oder im Narrenhaus (cista stolidorum) vor den Toren der Stadt, selten in einer besonderen Abteilung eines Spitals verwahrt. Ihre “Narrenfreiheit” bestand darin, dass sie für angerichtete Schäden oder ungehörige Reden nicht belangt werden konnten und dass sie im Falle eines Selbstmords nicht – wie sonst üblich – exkommuniziert und auf dem Anger verscharrt wurden.

Organisierte Pflege von Geisteskranken war Angelegenheit frommer Stiftungen. Solche gab es um 1100 in Metz, Ende des 12. Jh. in Zürich, Ende des 13. Jh. in Köln, 1352 in Bergamo, 1376 in Hamburg, 1410 in Padua oder 1460 in Nürnberg. Irrenanstalten wurden als narrehus, tolkiste oder affental bezeichnet. Im 15. Jh. füllten sich die durch den Rückgang der Lepra entleerten Leprosorien mit Geisteskranken. Gelegentlich wurden sie auch in Verliesen in Türmen der Stadtmauer untergebracht (Lübeck, Nürnberg), wo sie zur zwangsweisen Ruhigstellung mitunter im Stock eingeschlossen wurden (“Stocknarren”). Vom Ende des 15. Jh. an wurden Geisteskranke auch in Hospitälern aufgenommen.

Die fortschrittlichsten Einrichtungen zur Behandlung Geisteskranker entstanden im Spanien des 15. Jh. unter dem Einfluss arabischer Medizin (Valencia, 1410; Barcelona, 1412; Saragossa, 1425; Valladolid und Sevilla, 1436; Palma de Mallorca, 1456; Toledo, 1480; Barcelona, 1481). In diesen “Manikomien” (span. manicomio = Irrenhaus) genannten Anstalten wurde schon damals eine Arbeitstherapie (labortherapia) entwickelt.

Selbstmörder blieben von kirchlichen und weltlichen Sanktionen verschont, wenn ärztlicherseits eine Geisteskrankheit als Ursache attestiert wurde.

(s. Fallsucht, Frais, Hirn, Liebeskrankheit, Melancholie, Narr, Seelenschmerzen, Tobsucht, Veitstanz)

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