Gerüche

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Gerüche (mhd. geruch = Duft, Ausdünstung, Geruch, Dunst, Brodem; auch: Ruf; lat. odoratus). Der Geruchssinn des Menschen – wie der aller Wirbeltiere – beruht auf einem komplexen System von Nervenzellen (Riechschleimhaut), die im Nasenraum beheimatet sind und chemische Reize (Duftstoffe) mittels Chemorezeptoren wahrnehmen und an das Gehirn weiterleiten, wo sie im Riechzentrum verarbeitet und gespeichert werden. Die Fähigkeit, Gerüche wahrzunehmen und zu erinnern, dient u.a. zur Orientierung in der Umwelt, zum Auffinden und Beurteilen von Beutetierung und Nahrung, zur Identifizierung von Freund und Feind sowie zur Zusammenführung der Geschlechter. – Neben der Geruchswahrnehmung dient das Riechorgan auch der Auslösung von Reflexen, etwa der Sekretion von Speichel und anderen Verdauungssäften oder dem Würgen und Erbrechen. – Eng verwandt mit dem Geruchs- ist der Geschmackssinn: ohne das Aroma der Speisen gäbe es keine Lust am Essen.

Die Riechschwelle – die eben noch eine Geruchswahrnehmung auslösende Mindestkonzentration von dampf- oder gasförmigen Duftstoffen in der Luft – liegt beim Menschen wesentlich höher als bei Tieren. Zum Beispiel nimmt der Hund Buttersäure in einer millionenfach, Essigsäure in einer 100-millionenfach geringeren Konzentration wahr als der Mensch.

Das Gerüchespektrum des europäischen Mittelalter dürfte wesentlich weiter gespannt gewesen sein als das unserer Tage und zudem die Toleranzschwelle höher gelegen haben. Mancher aufdringliche Gestank ist seither verschwunden, manche Gerüche wurden dezenter, andere wurden in der Wahrnehmung umbewertet (der Geruch von Essigsäure beispielsweise wurde damals als balsamisch empfunden), wieder andere – etwa der von Benzol oder Aceton – sind neu hinzugekommen.

Wenn man als Pessimum der mittelalterliche Gerücheskala den schwefligen Höllenbrodem und als Optimum den himmlischen Wohlgeruch des Weihrauchs setzt, so finden sich dazwischen unzählbare Geruchsnuancen – häufiger unangenehmer Art, wie uns Heutigen scheint. Man denkt an Stuben, die vom stechenden Rauch des Herdfeuers und der Tranlampen oder Kienspäne erfüllt sind, an den beißenden Qualm von Kohlemeilern, an den ekelerregenden Fäulnisgeruch der Schlachthäuser, Gerbereien, Leim- und Seifensiedereien, an die allgegenwärtigen Ausdünstungen von Fäkalien, Jauche und Aas, an den süßlichen Fäulnisgeruch nekrotischer Körperteile von Lepra- und Ergotismuskranken, an den Mief schweiß- und schmutzdurchtränkter Wäsche, an die üblen Miasmen von Sümpfen, Mooren oder verschlammten Flussufern usw.

Die Qualität und Intensität des Körpergeruchs waren gleichsam Ausweis des Standes: war die Vorstellung eines Bauern mit der einer abstoßend animalischen Ausdünstung verbunden, so forderte höfische Etikette einen dezenten Eigengeruch, den man noch durch Seifen und Essenzen zu bessern oder zu überdecken suchte. Im übrigen scheint vom weiblichen wie vom männlichen Körpergeruch eine nicht unerwünschte erotisch stimulierende Wirkung ausgegangen zu sein. – Ärzte erstellten in der Tradition des Hippokrates ihre Diagnosen und Prognosen auch anhand einer Geruchsbeurteilung des Patienten bzw. seiner Ausscheidungen. Die medizinische Wissenschaft ging in der Tradition antiker Ärzte (Galen, Kriton, Caelius Aurelianus u.a. ) von der Heilkraft der Wohlgerüche aus; deren flüchtige Teilchen gelangten vom Nasenraum her direkt ins Gehirn, wo sie den Schleim und andere dickflüssigen Körpersäfte verdünnten und die Lebensgeister anregten (“Aromatherapie”).

Einem abgehenden Darmwind (mhd. vurz) gegenüber war man eher nachsichtig, empfand solchen allenfalls bei Tisch als unziemlich.

Als lieblich genoss man den Duft von ® Rosen, ® Nelken, ® Veilchen oder ® Lilien, und so wurde er schönen Frauen und der Hl. Maria zugeordnet; besonders zu Ehren der letzteren wurden in den Klostergärten Blumenbeete angelegt. – Man kannte eine Vielzahl Kräutern, die man sich ihres Duftes wegen ins Haus holte, so etwa ® Thymian, Salbei oder ® Lavendel. – Überirdischer Wohlgeruch – vergleichbar dem von Weihrauch oder brennenden Bienenwachskerzen – war auch ein Attribut von Heiligen und von deren Reliquien.

Die frühe Christenheit hatte Duftstoffe nur dem Bereich des Kultus für angemessen erachtet; Beduftungen des menschlichen Körpers galten als gottlos. Diese rigide Einstellung änderte sich, als im Verlauf der Kreuzzüge viele Duftstoffe und Essenzen nach Europa kamen. 1190 gründete der franz. König Philipp August die Gilde der Parfümmeister. – Von den Arabern lernte man die Destillation wohlriechender Wässer und die Herstellung parfümierter Seifen, im Spätmittelalter übernahm man von ihnen die Herstellung von Duftstoffen aus ® Ambra.

(s. Abfallbeseitigung, Abort, Brotseuche, Lepra, Miasma, Parfüm, Räucherungen (Mag.), Umweltprobleme, Weihrauch)

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