Grausamkeit

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Lexikon des Mittealters Leben im Schatten der Zinnen: Burgen des Mittelalters und ihr Alltag
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Grausamkeit (v. mhd. gruwesam, grusam, grusamlich = Schrecken erregend; lat. crudelitas). Mit Verstörung und Abscheu nehmen wir Heutigen Kenntnis von den unvorstellbaren Grausamkeiten, die unsere mittelalterliche Artgenossen gegen Ihresgleichen und gegen Tiere erdachten und lustvoll ausführten oder als Zuschauer genossen. Man sucht nach den Ursachen der Faszination, die Qual und Leid auf alle Mitglieder der christlich-abendländischen Kulturkreises ausübten – gleich ob rohe Bauern, ritterliche Herren oder sanftmütige Nonnen. Wo die einen ihre Brutalität mit Brachialgewalt auslebten, versenkten sich die anderen mit Wollust in die bluttriefenden Martyrien christlicher “Glaubenszeugen”.

Um die stupende Grausamkeit des Mittelalter zu relativieren, wird gelegentlich die Behauptung aufgestellt, der mittelalterliche Mensch sei “von anderer Leiblichkeit” gewesen, unempfindlich gegen körperliche Qual. Man nennt als Beleg dafür die Art und Weise, wie seinerzeit Zähne gezogen und Gliedmaßen amputiert wurden, und begründet die angebliche Schmerzunempfindlichkeit u.a. mit einer harten, an Körperstrafen reichen Erziehung oder mit permanentem Alkoholmissbrauch. Unterschlagen wird dabei, dass sehr wohl – taugliche und untaugliche – Versuche zur Schmerzlinderung unternommen wurden, und dass öffentliche Martern und Hinrichtungen nicht so große Faszination auf das Volk ausgeübt hätten, wenn die Opfer sie ohne Schmerzreaktion und in stoischer Gleichgültigkeit ertragen hätten.

Wesentlich scheint zu sein: Der Affekthaushalt des Menschen im christl Mittelalter war weniger durch Konventionen eingeengt, seine Gefühle weniger gebändigt, seine Verhaltensweisen derb und ungeschliffen. Die autoritäre Erziehung mit ihren Demütigungen und Züchtigungen, wie sie im häuslichen Verband, in handwerklicher und schulischer Ausbildung durchlebt wurde, förderte Ohnmachtsgefühle und daraus resultierende Aggressivität. Dazu kam der Druck ständiger Strafandrohung – vor allem seitens eines rächenden, patriarchalischen Gottes. Dessen Straf-Repertoire wurde von der Theologie anhand der Hl. Schriften und der ewigen Höllenpein drastisch vor Augen gestellt. Nur konsequent, wenn man den zürnenden Herrgott zu versöhnen suchte, indem man diejenigen, die seine Ordnung verletzten, nach seinem Beispiel – also grausam – züchtigte oder vernichtete. Verbrecher, besonders solche gegen die Kirche und die christlich Lehre, waren als Gottesfeinde wie reißende Wölfe aus der Herde der Gotteskinder ausgeschieden. Es musste gottgefällig sein, sie unmenschlich zu verfolgen.

Ein Faszinosum stellten auch die Heiligen-Legenden dar, die akribisch von den sadistischen Methoden berichten, mittels derer christl. Märtyrer gefoltert und zu Tode gebracht worden waren.

Nicht zu vergessen auch, dass schreckerregende Zeitumstände (Unwetter, Erdbeben, Hochwasser, Hungersnöte, Seuchen, Kriege, Papstschisma) die Gesellschaft neurotisierten und sie nach Sündenböcken für den göttlichen Zorn suchen ließen, der all dem zugrundeliegen musste. In solchen Zeiten fielen die letzten Hemmungen, wütete das Christenvolk im Blutrausch unter denen, die sich gerade als Außenfeinde verteufeln ließen – seien es Juden oder Ketzer, Hexen oder Heiden, Sarazenen oder Zigeuner.

(Uns selbst unterscheidet in Hinblick auf das Gesagte nichts Prinzipielles von unseren mittelalterliche Vorfahren. Zwar sind unsere Gefühle und Gefühlsäußerungen, unser Empfinden und Benehmen verfeinert. Aber die Tendenz, eigenes Unbehagen und Leid als von anderen verursacht zu sehen, ist ungebrochen. Diese “Anderen” werden nach wie vor ausgegrenzt und “verteufelt”, wobei wir – aufgrund gewachsenen Rechts und eines dünnen Überzugs von Empfindsamkeit – deren Unschädlichmachung an staatliche Organisationen und anonyme Amtsapparate delegieren.)

(s. Blindenwettkampf, Erziehung, Folter, Gautschen, Hexenprozess, Märtyrerkult, Narkotika, Schulmeister, Strafen an Haut und Haar, Tierethik, Todesstrafen, Züchtigung)

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