Harnbeschau

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Lexikon des Mittealters Leben im Schatten der Zinnen: Burgen des Mittelalters und ihr Alltag
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Harnbeschau (mhd. brunne-, harn-, wazzer-schouwunge; lat. Uroskopie). Harn war – nach der im Mittelalter allgemein akzeptierten Säftelehre – ein dünnflüssiges Exkrement, mit welchem überschüssige und schädliche Substanzen (materia peccans) aus dem Körper ausgeschieden wurden. Aus der Qualität des Harns konnten Rückschlüsse auf die Nahrung, auf Organfunktionen und Blutqualität gezogen werden. Somit war die Harnuntersuchung ein wichtiges medizinisch-diagnostisches Mittel: “Unde da von habent noch huite die hohen meister die kunst, daz sie bekennent an einem glase des menschen nature unde sinen siechtuom, unde danne, wie man ieglichen siechtuom büezen sol.” Oder: “Daz muoz ich an dem brunnen sehen, so kan ich dar nach reht spehen, wie ich iu dar nach erzen sol, daz sich an dem brunnen wol.” Auch den nahenden Tod glaubte man am “brunnen” ablesen zu können: “Consulti medici urinae inspectione mortem citissimam praedixerunt.” Häufig ging die Kunst der Harnbeschau ohne feste Grenze in wahrsagerische Spekulation über (“Uromantie”; Plinius hatte sie den Augurien (Zeichendeutungen) zugerechnet.

Die Schutzheiligen der Mediziner, Cosmas und Damian, sowie studierte Ärzte des Mittelalter wurden in zeitgenössischen Darstellungen fast ausschließlich mit einem Glaskolben von etwa 0,5 l Fassungsvermögen, dem Harnschauglas (matula, urinal), dargestellt, das sie mit ausgestrecktem Arm prüfend gegen das Sonnenlicht oder einen hellen Hintergrund heben oder eher beiläufig, quasi als Standeszeichen, in einer Hand halten. So sehr wurde das Schauglas zum Symbol des Ärztestandes, dass es von diesem als Signet auf Aushängeschildern verwendet wurde.

Grundlegende Idee der Harnschau war die Galenische Säftelehre: von der Qualität – meist des morgendlichen Nüchternharns – sei auf die Komposition der Körpersäfte und von daher auf den Gesundheitszustand und auf das Temperament zu schließen. (Dicker, roter Harn kennzeichne den Sanguiniker, dünner, roter Harn den Choleriker, “dieser hat des Blutes zuviel und zu wenig Feuchtigkeit von dem Wasser. Dieser muss notwendig jähzornig sein, da die Galle so stark in ihm brennt, dass die Feuchtigkeit ihr nicht widerstehen kann” usf. Für die systematische Beurteilung der Farbwerte weren kolorierte “Hanrnglasscheiben” in Gebrauch. Eine der ältesten erhaltenen ist die im “Fasciculus medicinae” des Johannes de Ketham [um 1400] mit 20 Farbnuancen von Kristallklar über Kamelhaarweiß [“ut vellus cameli”], Gelb, Rot, Grün bis Schwarz [“ut cornu”]).

Bei Hildegard von Bingen findet sich ein Kapitel “de urina inspectione”. Sie schreibt: “Der Harn eines Kranken ist, behufs Erwägung seiner Gesundheit oder Krankheit, aufzuheben, wenn dieser nach dem Schlafen erwacht, weil dann der Harn dem Befinden des Kranken entsprechend zusammengemischt und gefärbt ist.”

Seit dem 12. Jh. wurde auch nach der “Harnregionenlehre” befunden: In den Umriss des Glases dachte sich der Arzt die in fünf Regionen aufgeteilte Topographie des menschl. Leibes; dem Befund wurde dann die regionale Verteilung von Harnsedimenten zugrundegelegt. Der Ansammlung der Contenta im unteren (“Hypostasin”, Sediment), mittleren (“Sublimia”) oder oberen Bereich (“Nubes”) des Glases wies auf die Lage der erkrankten Körperregion hin.

Der geübte Arzt konnte durch die Harnschau wertvolle Hinweise auf bestimmte Erkrankungen erlangen. Veränderungen von Harnmenge, Konsistenz, Farbe, Trübung und Geruch, Beimengungen oder Sediment können auf Krankheiten der Nieren, der ableitenden Harnwege, der Geschlechtsorgane, der Leber, der Bauchspeicheldrüse oder auch auf bestimmte Vergiftungen hindeuten. Die aufdringliche Überbetonung der Harnschau drängt einem jedoch den Eindruck auf, es habe sich dabei um eine spekulative Mode, wo nicht um Scharlatanerie und betrügerische Machenschaft gehandelt. (Um das Jahr 1300 schreibt der gelehrte Arzt Arnaldus Villanovanus: “Weißt du bei der Betrachtung des Urins nichts zu finden, so sage, es sei eine Obstruktion der Leber zugegen. Sagt nun der Kranke, er leide an Kopfschmerzen, so musst du sagen, sie stammen aus der Leber. Besonders aber gebrauche das Wort Obstruktion, weil sie es nicht verstehen, und es kommt viel darauf an, dass sie es nicht wissen, was man spricht”.)

Die im europ. Mittelalter weitverbreitete siebenbändige “Abhandlung vom Urin” stammt von dem byzantin. Arzt Johannes Aktuarios (14. Jh.). Darin zieht er zur Beurteilung folgende Kriterien heran: Lebensalter, Zeit, Aufenthaltsort, Schlaf, Wachen, Menge der aufgenommenen Nahrung, Körpertemperatur des Patienten sowie Bodensatz, Geruch, Farbe und Transparenz des Urins. Neben anderem auch von Uroskopie handelt die mhd. Schrift “Practica des Bartholomäus von Salerno” (13./14. Jh.). Diese geht auf die Sammelhandschrift “Compendium salernitanum” (12.Jh.) zurück, an der ein Bartholomäus Ferrarius maßgeblich beteiligt war.

(s. Bartholomäus, Maurus von Salerno)

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