Kannibalismus

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Lexikon des Mittealters Leben im Schatten der Zinnen: Burgen des Mittelalters und ihr Alltag
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Kannibalismus (die Bezeichnung geht auf Chr. Columbus zurück, der in seinem Reisetagebuch die menschenfressenden Bewohner der Karibischen Inseln als Canibales bezeichnet. Bis dahin sprach man – nach antikem Vorbild – von Anthropophagen, mhd. menschenvraz). In mittelalterliche Enzyklopädien (z.B. “De imagine mundi” [s. Honorius Augustodunensis], “Liber de natura rerum” [s. Thomas von Chantimpre], “Das Buch der Natur” [s. Konrad von Megenberg]) werden fernöstliche Völker beschrieben, die Artgenossen, ja sogar die eigenen Verwandten verspeisten (Patrophagen). – Auch den Angehörigen der legendären heidnischen Stämme Gog und Magog wurde Kannibalismus nachgesagt. – Otto von Freising berichtet in der ersten Hälfte des 12. Jh. von der “Barbarei der Slawen”, welche alte Leute und Kinder fräßen. – Nach einem Bericht des russischen Erzbischofs Peter vor dem Konzil von Lyon (1245) äßen die Mongolen notfalls auch Menschenfleich. – Marco Polo erzählt von Menschenfressern in Java, Sumatra und Cipangu (Japan). “Der Vorwurf des Kannibalismus gehört denn auch seit mittelalterlichen Zeiten zu Stereotypen der Feindpropaganda.” (Zit. nach N. Ohler).

Von Menschenfresserei blieb auch das mittelalterliche Abendland nicht verschont. Während der Hungersnöte vom 8. bis zum 14. Jh. und wohl auch während mancher Belagerung wurden Menschen gezwungen, des schieren Überlebens willen alles nur Erreichbare zu verschlingen: Gras, Rinden, Ratten, Schlangen – und eben auch Artgenossen. Annalen aus der Gegend um die obere Mosel (Annales Mosellani) berichten für das Jahr 792 von einer Hungersnot, die im Vorjahr begonnen hatte und von einem Ausmaß war, “dass Menschen andere Menschen aßen, ein Bruder den anderen, die Mütter ihre eigenen Kinder”. Für Frankreich und Deutschland bezeugt der Chronist Radulph Glaber Menschenfresserei für das Jahr 1033: Viele, die vor dem Hunger in die Fremde geflohen waren, seien nachts in der Herberge erdrosselt, zerstückelt, gekocht und verschlungen worden (“membratimque dividebantur ignique decocti vorabantur”). Zumeist fielen den Menschenschlächtern Kinder zum Opfer oder Leute, die – selbst vom Hunger aus der Heimat vertrieben – planlos durch das Land irrten; durch endlose Hungermärsche entkräftet wurden sie leichte Beute für Totschläger, die sie zur eigenen Sättigung metztelten oder um aus dem Handel mit Leichenfleisch Profit zu ziehen. Aus Polen verbreiteten sich Berichte von Hungernden, die Gehenkte vom Galgen schnitten, um sie zu verzehren. Es sollen auch Leichen ausgescharrt und verschlungen worden sein. Aus einer Windsheimer Chronik für 1315 (zit. nach R. Glaser): “Sahe man zwen Cometen, und war ein naßer Sommer, große hungersnot, so an etlichen Orten die leüt gezwungen, das Sie allerleys, hund, pferd, und dieb von galgen gefreßen …”

(s. medizinischer Kannibalismus)

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