Mystik

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Mystik (lat. mysticus = geheimnisvoll; v. grch. myein = Augen oder Lippen schließen). Alle mittelalterliche Offenbarungsreligionen kannten das Phänomen der seelischen Entrückung und Erleuchtung in psycho-physischen Ausnahmezuständen (die durch körperliche Askese, Kontemplation oder Meditation provoziert werden konnten). Mystische Erlebnisse sind, schon aufgrund der verschiedenen personalen Wesensarten und Erwartungshorizonte, unterschiedlicher Art und entziehen sich einer Systematisierung. Sie umfassen Erkenntnis- und Prophezeiungsvisionen, erotisch-sinnenhafte Verzückungen (“Brautmystik”), Passions- und Christus-Visionen, die Gottesfreundschaft (gotes-vriuntschaft) und das Erlebnis personaler Entgrenzung, des Einswerdens der menschlichen Seele mit Gott (“unio mystica”).

Im christl. Abendland erscheint die Mystik erst im 12. Jh., wohl als Reaktion auf die rationalistische Scholastik, wie ein Ausspruch Bernhards von Clairvaux belegt: “Glühen ist mehr als Wissen”. Nicht begriffliche sondern intuitive Erkenntnis führt zu Gott, Wahrheit wird auf einem übernatürlichen Weg (Offenbarung), und nicht wesentlich durch Vernunft gewonnen. Zur mystischen Praxis gehören außerbewusste Zustände oder Grenzzustände wie Träume, Verzückungen, Visionen und Ekstasen.

Besonders in den asketischen Mönchs- und Nonnenorden des 12. und 13. Jh., bei Zisterziensern und Franziskanern blühte die Mystik. Die bedeutendsten Vertreter christlicher Mystik des Mittelalter waren Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Victor, Franz von Assisi, Bonaventura, Thomas von Aquin, Meister Eckhart, Ludolf von Sachsen, Johannes Tauler, Heinrich Seuse und Nikolaus Cusanus. In den Niederlanden war Johannes Ruysbroeck der wohl bedeutendste Anhänger der deutschen Mystik. Die mystische Religiosität des 14. Jh. dürfte nicht zuletzt durch die Überwindung der scholastischen These von der Beweisbarkeit der Glaubenssätze beflügelt worden sein. Für Nikolaus von Kues steht das Wissen vom Nichtwissenkönnen der menschlichen Vernunft (docta ignorantia) fest.

Vom späten 12. Jh. an kam in Frauenklöstern eine mystische Art der Frömmigkeit auf, die noch vertieft wurde, als durch ein Dekret von Papst Klemens IV. 1267 die Dominikanerpatres die Seelsorge in Nonnenkklöstern übertragen bekamen. Die Frauenmystik fand ihren Niederschlag in vielen deutschsprachigen Handschriften der literarisch gebildeten Nonnen. Frauenmystik war in erster Linie Erlebnismystik – im Gegensatz zur intellektuellen Erkenntnismystik, wie sie überwiegend von Männern gesucht wurde. Charakteristisches, vielfach ekstatisches Visionserlebnis war die bräutliche Vereinigung mit Christus (Brautmystik), die häufig eindeutig erotisch war. Mystikerinnen erlitten mit Maria deren Schwangerschaft und gerieten in geburtsähnliche Zustände, hatten Erlebnisse des Stillens des Jesusknaben (Christkindmystik) oder erlebten das Martyrium Christi nach (Passionsmystik). Seit dem 13. Jh. kam es zu einer Herz-Jesu-Verehrung und zur Devotion der “Fünf Wunden Christi”, die in zahlreichen volkssprachigen Gebeten Ausdruck fanden. In der ersten Hälfte des 14. Jh. entstand in den Klöstern der Dominikanerinnen eine Vielzahl von legendenhaften Nonnenviten: rückblickend wird anhand nachahmenswerter Vorbilder beschrieben, wie harte Askese zur Begnadung mit Visionen und Auditionen führen kann (z.B. in “Das Leben der Schwestern von Töß” der Elsbeth Stagel). Herausragende Vertreterinnen der Frauenmystik waren Hildegard von Bingen, Maria von Oignies, Mechthild von Hackeborn, Mechthild von Magdeburg, Gertrud die Große, Elsbeth Stagel, Margareta Ebner, Christina Ebner, Adelheid Langmann und Margareta Porete.

Der Kirche blieben Mystiker – gleich welchen Geschlechts – stets unbequem, gar häresieverdächtig. Hatten sie doch, indem sie Gott unmittelbar gegenübertraten, die Mittlerschaft der Priester nicht nötig, konnte ihre religiöse Erfahrung nicht kontrolliert werden, mochten aus ihren mystischen Erlebnissen gar ketzerische Lehren entstehen. Wenn schon arrivierte Kirchenmänner – wie z.B. Meister Eckhart, Provinzial der Dominikaner und Magister der Theologie – als Mystiker vor kirchl. Anklage und Verurteilung nicht sicher waren, um wieviel ungehemmter wurde dann gegen Frauen vorgegangen, zumal wenn sie niederer Herkunft und ohne Bildung waren wie z.B. viele der schwärmerischen Beg(h)inen.

Für die Literatur waren Mystiker insofern von Bedeutung, als sie bei der Suche nach Ausdrücken, die ihren Erlebnissen adäquat waren, wortschöpferisch tätig wurden. Sie bedienten sich poetischer Metaphern, Bilder und Vergleiche (“schreiendes Herz”, “fließendes Licht”) und erfanden abstrakte Begriffe (wie An-stoß, Aus-bruch, be-greifen, Erhaben-heit).

(s. Minneallegorie, geistliche; zu jüd. Mystik s. Kabbalah; zu Brautmystik s. Agnes Blannbekin)

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