Narkotika

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Narkotika (mhd. slaftranc; lat. hypnoticum, narcoticum, medicina sedans dolorem, medicina stupefaciens, obdormitantium, stupefactivum, sedantium, provocantium somnis, insensibilium). Wenngleich angenommen wird, dass die Bereitschaft, Schmerz als gottgegeben zu akzeptieren und die Schmerztoleranz mittelalterliche Menschen größer als die des heutigen gewesen sind, so schätzten doch die Wundärzte zur Erleichterung schmerzhafter Eingriffe (wie z.B. Sägen [serrare], Schneiden [secare, incidere], Brennen [comburere]) verschiedene Betäubungsmittel, womit “man eynen schlaffen macht, den man schneiden wolde”.

Dioskurides (1. Jh. u. Z.) betäubt Patienten vor einer Operation mit einem Trank von drei Bechern (~ 1/4 ltr.) Mandragorawurzel-Saft oder mit einem Zäpfchen, das 1 Obolos (~ 0,7 gr.) des Saftes enthält und rektal eingeführt wird. Auch die Einnahme von einer Drachme (~4,36 gr.) Mandragorawurzel-Pulver “bewirke so tiefen Schlaf, dass der Patient drei bis vier Stunden ohne jede Empfindung sei und in derselben Stellung verharre.” (Zit. R. Schmitz)

Nach antikem Vorbild hat man im Mittelalter häufig einen starken Trunk Weines verabreicht, um den Patienten zu beruhigen und um die Schmerzempfindung zu dämpfen.

Isidor von Sevilla (6./7. Jh.) verwendet einen Trank aus Wein und Mandragorarinde, damit die Patienten beim Schneiden keinen Schmerz spüren.

Unter den 142 Präparaten des “Antidotarium Nicolai” (12. Jh.) finden sich mehr als die Hälfte an Schmerzmitteln (anodyna).

Der “Liber de simplicium medicinarum virtutibus” (Johannes v. St. Paul, Ende 12. Jh.) nennt Mittel, welche Gefühllosigkeit erzeugen (obdorminantia, wie z.B. Schwarzer Mohn, Opium, Mandragora) und Mittel die Schlaf bringen (provocantia somnum), wobei er zwischen solchen unterscheidet, die durch ihre große Kälte das Gehirn betäuben (z.B. Opium, Mandragora, Bilsenkraut) und solchen, die dem Gehirn Kälte und Feuchtigkeit zuführen (z.B. Veilchen, Seerose, Mohnsamen, Lattich, Hauswurz) und letztlich solchen, die schmerzlindernd und schlaffördernd wirken (z.B. Dill und Amomum).

Weithin verwendet wurde der “Schlafspendende Schwamm” (spongia somnifera), durch den der Patient bis zur Benommenheit oder Bewusstlosigkeit einatmen musste (in Europa erstmals in einem Rezept des Benediktinerklosters Monte Cassino vom 10. Jh. beschrieben). Der Vorteil der Schwammnarkose lag in der schnellen Resorption der Wirkstoffe durch die Schleimhaut der Atemwege und in der geringeren Gefahr einer Überdosierung. Besagter Schwamm wurde mit Säften von Frischdrogen (Alraune, Bilsenkraut, Tollkirsche [s. Drogen]), Schierlingsblätterextrakt (Wirkstoffe Coniin bzw. Cicutoxin), Efeusaft (Hedera helix, mhd. eppich; Wirkstoff Hederin) und zerstoßenem Mohnsamen (s. Opium) getränkt und an der Sonne getrocknet. Vor der Verwendung wurde er mit warmem Wasser angefeuchtet und dem Patienten vor das Gesicht gebunden. Nach Beendigung der Operation konnte das Wiedererwachen des Patienten durch einen Weck-Schwamm beschleunigt werden; dieser war mit frischem Fenchelsaft getränkt und wirkte durch seine zentral erregenden Inhaltsstoffe.

Als Narkotika verwendet wurden außer den schon genannten: Haschisch (v. hebr. schish = Freude; mhd. hanef-samin) aus einheimischem, später auch aus indischem Hanf, der das halluzinogene Tetrahydrocannabiol (THC) enthält, Giftlattich (Lactuca virosa, mhd. latech; narkotisierende Wirkstoffe Lactucin, Lactucopicrin) und Germer (veratrum album, ahd. germarrum; enth. die anästhesierenden und blutdrucksenkenden Alkaloide Protoveratrin, Germerin und Veratramin). Diese Substanzen “kalter Qualität” wurden in unterschiedlichen Mischungen, häufig mit wirkungsfördernden Beimengungen von Substanzen “warmer Qualität” (Bibergeil, Safran, Zimt) zur Inhalationsnarkose (mittels Schlafschwamm) verabreicht oder als Aufgüsse per os eingegeben. Trotz der Kenntnis betäubender und schmerzstillender Pharmaka wurden die meisten Operationen – sei es wegen gebotener Eile oder wegen der Armut des Patienten oder wegen Minderqualifikation des Behandelnden – bei vollem Bewusstsein durchgeführt. Die hohe Toxizität der Alkaloiddrogen und die Schwierigkeit exakter Dosierung ließen die Allgemeinanästhesie am Ende des Mittelalter an Bedeutung verlieren.

Der große Arzt Guy de Chauliac riet in seiner “Chirurgia magna” zu äußerster Vorsicht bei der Anwendung einer Vollnarkose, da sie häufig mit fatalen Folgen verbunden sei: manche der Patienten verlören den Verstand, manche würden überhaupt nicht mehr erwachen (Zit. nachCiara Frugoni).

Als Lokalanästhetika kannte man Angüsse und Umschläge mit betäubenden Arzneien (etwa ein Kataplasma aus Mohn, Bilsen und Alraune) oder das Abschnüren einer Extremität. Zur Extraktion schmerzender Zähne benutzten die Zahnkünstler den Rauch erhitzten Bilsensamens, der mit einer trichterförmigen Vorrichtung an den betreffenden Zahn geleitet wurde (s. Memphites, Räucherungen).

(s. Schlafmittel, Schmerzbekämpfung)

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