Ruhr

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Ruhr (mhd. ruor, ruore = heftige Bewegung [im Unterleib]; auch diarria, dissinteria, bluotsuht, dünnschysz, fluctus ventris, fluctus sanguinis). Heftige durchfällige Darmerkrankungen mit hoher Sterblichkeitsrate, seien es Typhus, Ruhr und vielleicht auch Cholera, wurden im Mittelalter zumeist als Folge von Ernährungsfehlern – bzw. der daraus resultierenden Störung des Säftegleichgewichts – gedeutet und ätiologisch nicht unterschieden. Sie waren stets in der ungenügenden Hygiene der Zeit begründet (“Krankheiten der schmutzigen Hände”) und wurden häufig durch Fliegen oder durch fäkale Kontamination des Trinkwassers vermittelt (s. Brunnen, Brunnenvergiftung).

Die Amöbenruhr (Amöbiasis) wird durch Entamoeba histolytica verursacht und ist auf warme Länder beschränkt. Sie ist für das deutsche Mittelalter insofern von Bedeutung, als sie Opfer unter Jerusalempilgern, Kreuzzüglern und Italienfahrern forderte. Krankheitsanzeichen sind wässrig-schleimiger Durchfall (weiße R.), Kolik (colica passio), Stuhlzwang und – im Gegensatz zur bakteriellen Ruhr – fieberfreies Anfangsstadium.

Die bakterielle Ruhr, hervorgerufen durch verschiedene Erreger der Gattung Shigella, äußert sich durch akuten Durchfall mit Schleim- oder Blutbeimengung (rote R. [der rot siechtag, blutscheisz]), Koliken sowie schmerzhaften Stuhlzwang und tritt von Anfang an mit Fieber auf.

Beiden Krankheitsarten gemeinsam sind das gehäufte Auftreten nach Überschwemmungen, kurze Inkubationszeit, häufiger und heftiger Stuhlzwang (bis zu 50 mal am Tag), der Mastdarmvorfall zur Folge haben kann, und schleimig-blutige Entleerungen.

Die Krankheit löste während mittelalterliche Heereszüge Massensterben aus (z.B. beim Kriegszug Karls des Dicken gegen die Normannen [882], im Heer Friedrichs I. Barbarossa vor Rom [1167] oder unter den Kreuzrittern Ludwigs des Heiligen [1248, 1270]) und forderte auch viele prominente Opfer (z.B. Karl der Kahle [877], Otto I. der Große [973], Friedrich II. [1250]). Für das Spätmittelalter sind – besonders nach großen Überschwemmungen – viele Fälle von seuchenhaftem “Blutfluss” in den Städten belegt (z.B. Minden und Osnabrück [1341], Augsburg [1462/63]). Der Zusammenhang zwischen Überschwemmung und Seuchenausbruch ist in den miserablen hygienischen Zuständen in mittelalterliche Städten zu suchen. (s. Abfallbeseitigung, Hygiene)

Der Geschichtsschreiben Gottfried von Viterbo (1125 – nach 1202) beschreibt folgende Symptome der Krankheit: anhaltender Durchfall, Schmerzen des Kopfes, der Eingeweide und der Beine sowie unerträglicher Gestank, der von den Befallenen ausgeht.

Man begegnete der Krankheit vor allem mit Mitteln der Diätetik, mit Medikamenten (Adstringentien und Styptika), setzte bei starkem Tenesmus opiumhaltige Arzneien ein und rief jenseitige Mächte um Hilfe an. Als Mittel aus der Volksmedizin seien angeführt: getrockneter und pulverisierter Wolfsdarm (innerlich oder als Amulett), die Brühe einer gesottenen Haselmaus (durch einen Wolfsdarm getrunken), Rehblut (bei roter Ruhr), Kuhleber (gegen Ruhrkolik), Roth-Sandel-Holz, wirksam aufgrund der roten Farbe.

Hildegard von Bingen schreibt in “Causae et curae” unter “von der Ruhr”: “Haben also bei einem Menschen die schlechten Säfte die Überhand gewonnen, …, dann erzeugen sie bei ihm sozusagen eine ungehörige Überflutung, die einen dicken, üblen Rauch und Qualm zu seinem Gehirn aufsteigen lässt und jene kleinsten Gefäße, die das Gehirn umgeben, sämtlich zu einer verkehrten Art der Strömung veranlasst. Dann fließ das Blut in ihnen übermäßig aus und bringt alle die großen Gefäße, denen sie … angeheftet sind, in Bewegung, so dass auch diese in verkehrter Richtung sich ergießen, ihr Blut durch den ganzen Körper hin ausströmen und zu den Eingeweiden und zum Stuhl hinsenden. So macht dies Blut … den Stuhl blutig …”

(s. Verdauungsstörungen)

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