Tugenden

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Lexikon des Mittealters Zwischen Zinnen und Alltag - Das Leben auf mittelalterlichen Burgen
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Tugenden (ahd. tugund, von tugan = taugen; lat. virtus). Ethisch wertvolle Charaktereigenschaften. Den vier klassischen Tugenden Platons (prudentia = Klugheit/Weisheit, temperantia = Besonnenheit/ Mäßigkeit, fortitudo = Tapferkeit und iustitia = Gerechtigkeit) werden von der christl. Lehre Glaube, Hoffnung und Liebe (fides, spes, caritas) übergeordnet. Die Zahl der Tugenden war nicht festgelegt; neben der Siebenergruppe gab es im Hochmittelalter zahlenmäßige Erweiterungen, wobei den Zahlen Zwölf und Fünfzehn besondere Bedeutung zukam.

Jedem Laster entsprach eine Tugend, durch die es überwunden werden konnte: so wurde der Hochmut (superbia) durch Demut (humilitas), die Begierde (libido) durch Keuschheit (castidas) oder der Neid (invidia) durch Güte (bonitas, benignitas) überwunden.

Die Hl. Hildegard nennt in „Liber vitae meritorum“ („Buch über die Vergeltung der Lebensverdienste“) 35 Tugenden samt den entsprechenden Lastern:

1. Amor caelestis (Liebe zum Himmlischen)/Amor saeculi (Weltliebe)

2. Disciplina (Zucht)/Petulantia (Ausgelassenheit)

3. Verecundia (Zurückhaltung)/Joculatrix (Vergnügungssucht)

4. Misericordia (Barmherzigkeit)/Obduratio (Hartherzigkeit)

5. Divina victoria (Gottes Sieg)/Ignavia (Feigheit)

6. Patientia (Geduld)/Ira (Wut)

7. Gemitus ad Deum (Gottersehnen)/Inepta laetitia (Ausschweifung)

8. Abstinentia (Enthaltsamkeit)/Ingluvies ventri (Völlerei)

9. Vera largitas (Freigebigkeit)/Acerbitas (Engherzigkeit)

10. Pietas (Frömmigkeit)/Impietas (Gottlosigkeit)

11. Veritas (Wahrheitsliebe)/Fallacitas (Lügenhaftigkeit)

12. Pax (Friede, Gemütsruhe)/Contentio (Streitsucht)

13. Beatitudo (Seligkeit)/Infelicitas (Schwermütigkeit)

14. Discretio (Mäßigkeit)/Immoderatio (Maßlosigkeit)

15. Salvatio animarum (Seelenheil)/Perditio animarum (Verworfenheit)

16. Humilitas (Demut)/Superbia (Hochmut, Stolz)

17. Charitas (Liebe, Nächstenliebe)/Invidia (Missgunst, Neid)

18. Timor Domini (Gottesfürchtigkeit)/Inanis gloria (Ruhmsucht)

19. Oboedientia (Gehorsam)/Inoboedientia (Ungehorsam)

20. Fides (Glaube)/Infidelitas (Unglaube)

21. Spes (Hoffnung)/ Desperatio (Verzweiflung)

22. Castitas (Keuschheit)/Luxuria (Wollust)

23. Justitia (Gerechtigkeit)/Injustitia (Ungerechtigkeit)

24. Fortitudo (Tatkraft, Tapferkeit)/Torpor (Trägheit)

25. Sanctitas (Heiligkeit)/Oblivio (Gottvergessenheit)

26. Constantia (Beständigkeit)/Inconstantia (Wankelmütigkeit)

27. Caeleste desiderum (Himmelssehnsucht)/Cura terrenorum (Diesseitssorge)

28. Compunctio cordis (Zerknirschung)/Obstinatio (Verstocktheit)

29. Contemtus mundi (Weltverachtung)/Cupiditas (Habsucht, Begierde)

30. Concordia (Eintracht, Harmonie)/Discordia (Zwietracht, Streit)

31. Reverentia (Ehrfurcht)/Scurrilitas (Spottsucht)

32. Stabilitas (Beständigkeit)/Vagatio (unstetes Umherschweifen)

33. Cultus Dei (Gottes Dienst)/Maleficium (Teufelswerk)

34. Sufficientia (Genügsamkeit)/Avaritia (Habsucht, Geiz)

35. Coeleste gaudium (himmlische Freude)/Tristitia saeculi (Weltschmerz).

Germanische Stammesrechte (6. – 8. Jh.) hatten für Herrscher praktische Qualitäten gefordert, so die Befähigung zur Führung eines Heeres, zur Rechtsprechung, zum Reiten und zur Waffenführung. In den mittelalterliche Fürstenspiegeln finden sich Tugendkataloge christlicher Herrscher. Darin steht an erstem Rang der Fürstentugenden die Förderung des kathol. Glaubens, gefolgt vom Schutz der Kirche, der Armen und Schwachen, der Witwen und Waisen und der Forderung nach vorbildlicher Frömmigkeit, nach mildem, freigebigem, gerechtem und friedensstiftendem Handeln und nicht zuletzt nach unnachgiebiger Strenge und Härte gegen das Böse (rigor iustitiae). Der ideale Herrscher sollte sich auszeichnen durch Weisheit, Mäßigung, Tapferkeit, Treue und Gerechtigkeit. (s. Ehre, Ritterlichkeit)

Als Kunstmotiv treten die Tugenden/Laster in Deutschland nicht so häufig auf wie in Frankreich oder Italien. Zu nennen sind die Bronzetüren in Nowgorod, die um 1153 in einer sächs. Werkstatt entstanden, Westchorfenster des Naumburger Doms (um 1250; die zwölf Tugenden sind hier den Zwölf Aposteln gegenübergestellt) und die Figurenreihe am Westportal des Straßburger Münsters (um 1290). In der mittelalterliche Symbolik findet die Tugend/Laster-Lehre vielgestaltigen Niederschlag. Für castidas beispielsweise steht eine Frauengestalt mit einer Palme oder einem Phoenix als Attribut, mit der Taube als Fahnenzeichen, häufig den Fuß sieghaft auf ein Schwein (die besiegte libido) gesetzt oder auf einem Einhorn reitend.

(s. Ritterlichkeit)

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